In der wissenschaftlichen Selbstbeschreibung des europäischen Wohlfahrtsstaats ist eine Erzählung dominant, die ihn als – wenn auch national unterschiedlich ausgeprägte – weltweit einzigartige Form der Institutionalisierung sozialer Solidarität versteht, die seit den 1980er-Jahren durch die neoliberale Transformation (gleichsam von außen) in Gefahr geraten sei. Der Beitrag setzt dieser Erzählung eine andere entgegen: Auch schon vor der „neoliberalen Revolution“ lebte das europäische Solidaritätsarrangement davon, dass es auf Kosten eines gesellschaftlichen „Außen“ organisiert wurde und systematisch Dritte schädigte. Solidarität in den europäischen „Externalisierungsgesellschaften“ funktioniert nur als exkludierende Solidarität: Sie ist durch strukturelle soziale Schließungen nach innen, insbesondere aber – vermittelt über die Institution der „citizenship“ – nach außen charakterisiert. Insofern zeichnet sich der europäische Wohlfahrtsstaat durch eine fundamentale normative Selbstüberschätzung aus: Indem er „Solidarität“ eindimensional als nationalgesellschaftlichen Zusammenhalt ausbuchstabiert, verfährt er tatsächlich nach einem doppelten moralischen Standard.