Die barocke grâce bildet die sozio-politische und ökonomische Kontrastfolie für das ideale Griechenland, das Winckelmann als Gesellschaft im Zeichen der charis entwirft. Es entspricht avant la lettre der Gaben tauschenden Gesellschaft im Sinne von Marcel Mauss. Der Begriff der charis deckt sich, wie an Pindar, einer entscheidenden Referenz des Gelehrten, deutlich ist, in vielen Hinsichten mit dem der Gabe. Winckelmann entwickelt Aspekte der charis und der Gabenbeziehung an der griechischen Lebensweise, den antiken Kunstwerken und der Kunstbetrachtung und konzipiert ›Grazie‹ als Verhältnis der Anerkennung. Seine Statuenbeschreibungen fungieren selbst als Gaben, die eine neue Art der Sozialität ermöglichen. Denn ein zeitgenössisches Pendant zu einer Gesellschaft, in der Schönheit ein fait social total bildet, ist die amikale Gemeinschaft der ästhetisch Sensibilisierten: In ihr kultivieren Gleichrangige einen liebend-vertrauten Umgang mit den Kunstwerken.